Das unbekannte Alto Ticino

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Im Süden der Schweiz und weit weniger bekannt als das Südtessin mit seinen Städten wie Lugano, Ascona oder Locarno ist das Nordtessin. Es erstreckt sich vom Gotthard Pass im Norden bis Bellinzona im Süden und ist der Schweizer Kanton, in dem man italienisch spricht. Hauptsächlich besteht der Alto Ticino aus den drei Tälern Leventina, Blenio und Riviera, sowie der Stadt Bellinzona und Umgebung. Von hier ist es auch nicht mehr weit bis zum Lago Maggiore in Italien. Man kann auf einer Strecke von weniger als sechzig Kilometern steile Berge erklettern oder erwandern, auf ewigen Schnee treffen, lange Wege im weiten Grün begehen, gemächliche oder wilde Flüsse sehen, die Spiegelungen der Berge in wunderschönen Bergseen bewundern und sich schließlich unter Palmen ausruhen.

Ein guter Ausgangspunkt zum kennen lernen der Gegend ist der Ort Piotta im Pioratal, denn von hier kann man mit der steilsten Standseilbahn Europas, der Funicolare del Ritom, die Hochtal Landschaft Val Piora und des Cadagno besuchen. Gebaut 1921 als Transportmittel zu einem Wasserkraftwerk beträgt die maximale Steigung der 1369 m langen Strecke 87.8 % und das merkt man schon, wenn man während der Fahrt nach unten schaut. Wenn man oben auf gut 2000 m Höhe ist, eröffnet sich eine wunderschöne Landschaft, bestens geeignet für Wanderungen auf markierten Strecken, die bis zu acht Stunden dauern können, darunter einen didaktischen Lehrpfad von gut 11 km, Dauer ca. vier Stunden. Die Berge ringsum den Stausee sind zwischen knapp 1800 m bis über 3000 m und die ganze Gegend wirkt irgendwie weltabgeschnitten und fast unwirklich ruhig. Dabei kann man hier die sehenswerte Käserei Piora besuchen, sehen wie Käse hergestellt wird, ihn genießen und es heftig bedauern, das man diese Köstlichkeit eigentlich gar nicht kaufen kann. Wenn man Glück hat, bekommt man ihn in diversen Restaurants unten im Tal, dann aber zugreifen! Ein guter Tipp ist eine Mittagspause in der Berghütte Cadagno, das Essen erfüllt hohe Ansprüche und ist ausgesprochen lecker. Hin und wieder strecken Murmeltiere rund um die Terrasse die Köpfe aus dem Bau und man meint, sie zählen die Gäste – und das sind nicht wenige. Ein bisschen Bildung kann nicht schaden und im Zentrum über alpine Biologie erklären die Professoren Brandl und Peduzzi, was die Alpen allgemein und diese Gegend ganz besonders macht. Hier gibt es nämlich den weltweit fast einmaligen See Lago di Cadogna. Der wird auch der „Todessee“ genannt, weil wenige Meter unter Wasseroberfläche eine richtige Todeszone beginnt. Tatsächlich liegen hier drei Wasserschichten übereinander, die sich nie vermischen, die untere gelbliche Schicht liegt dort schon seit 10 000 Jahren, also seit der letzten Eiszeit. Dort herrschen Bedingungen wie auf der ganz frühen Erde während der Entstehung des ersten Lebens, als es noch keinen Sauerstoff gab. Kommt ein Lebewesen, wie z.B. ein Fisch da rein, war´s das für ihn. Aufmerksam wurde man darauf, als die Bauarbeiter des Wasserkraftwerkes über Übelkeit klagten und erkrankten. Darüber liegt die rosa Schicht, in der sich eine große Anzahl verschiedener Bakterien sehr wohl fühlen. Ganz oben in der klaren und sauerstoffreichen Schicht tummeln sich sehr viele gut genährte Fische, die man angeln kann. Schön harmlos sieht der See aus und noch sind längst nicht alle seine Geheimnisse entdeckt, so wird kräftig weiter geforscht, und das in herrlicher Umgebung. Zurück sollte man unbedingt in Altanca anhalten, schließlich ist es schon Abend und der Hunger ist da. Die Osteria Altanca, mit herrlichem Blick auf das Tal und die Speisen- und Weinkarte lassen keine Wünsche offen, eine „Tessiner Platte“ mit u.a. diversen Schinken- und Wurstsorten, sowie dem wunderbaren Piora-Käse, ist eine „Muß“Vorspeise.
Die herrliche Umgebung von eben gibt es auch oben auf dem Gotthardpass, besonders wenn man die Tremola hinauf gefahren ist, eine Kurve kurz nach der anderen, man wird ganz schwindelig, deswegen auch Tremola. Oben gibt es nicht nur die Passhöhe mit einem Leuchtturm (im nächsten Jahr soll es dazu sogar ein richtiges Schiff auf dem kleinen See geben), sondern auch die beiden Museen Museo Forte Ospizio San Gottardo und das Museo Nazionale del San Gottarde, beide sehenswert. Während unten in der Tiefe die NEAT, die neue Alpentransversale mit 57 km der längste Eisenbahntunnel der Welt, fertig gebaut wird, kann man im Museum bestaunen, wie man früher den Pass überwunden hat – oder auch nicht, wenn man Pech hatte. Mit modernsten Mitteln zeigt das nationale Gotthardmuseum den langen beschwerlichen Kampf der Menschen mit der feindlichen Natur, um die so wichtige Handels- und Verkehrsverbindung zu erhalten und auszubauen. Das zeigt man mit Originaldokumenten, guten Nachbildungen, alten Fahrzeugen, Waffen und Uniformen, vielen Bildern und mehr. Die Zeit der Postkutschen wird lebendig, leider auch die grausamen Kämpfe, aber auch die aufopfernde Hilfsbereitschaft der nahen Hospizbewohner und der Mut der Reisenden besonders im Winter. Muss man ansehen! Und danach hinübergehen ins alte Hospiz, nunmehr Festungsmuseum, an den Militärwerken wurde noch bis 1947 gebaut. Erwähnt wird der Bau schon 1237, seine Form bekam das Haus 1623, von 1683 bis 1841 kümmerten sich die Kapuzinerbrüder um die Reisenden. Schön kann man das in den alten Verzeichnissen nachlesen, interessant wer da alles da war und was man für den Aufenthalt und die Betreuung bezahlte, oder halt für Gotteslohn bekam. Das war allemal besser als der Ausbau zur Militär-Festung, auch das kann man noch besichtigen. Das Museum zeigt Waffen, Ausrüstungen, Uniformen usw. und in Bild und Ton bekommt man noch weitere Informationen zu den Kämpfen näher gebracht, was meist nicht so schön war und zum Glück vorbei ist.
Etwas ganz Besonderes oben auf dem Passhöhe, aber ganz tief im Gotthard drin und noch im Bau, entsteht in einem ehemaligen Artilleriewerk die faszinierende Themenwelt SASSO SAN GOTTARDO. Fünf bedeutende Themen prägen die Gotthardregion: Wasser, Mobilität und Lebensraum, Wetter und Klima, Energie sowie Sicherheit. Das Projekt nimmt diese fünf Themen auf und verknüpft sie mit einer gemeinsamen Frage: Wie behandeln wir unsere Lebensgrundlagen, unsere Ressourcen, die immer knapper werden? Es ist an der Zeit, das Thema Ressourcen und die Frage, wie wir mit ihnen umgehen, einem breiten Publikum zugänglich zu machen. SASSO SAN GOTTARDO schafft diese Zugangsmöglichkeit.

Das ehemalige Artilleriewerk «Sasso da Pigna» bildet den Rahmen von SASSO SAN GOTTARDO. Es ist weit mehr als nur ein militärisches Bauwerk, sondern widerspiegelt auch viele Grundwerte und Anschauungen, welche die Schweiz zur Mitte des 20. Jahrhunderts prägten. «Sasso da Pigna» ist ein Denkmal von nationaler Bedeutung. Deshalb stehen die historisch wertvollsten Teile der Anlage auch unter dem Denkmalschutz des Bundes. SASSO SAN GOTTARDO wird dieses Denkmal mit all seinen Facetten wieder zum Leben erwecken. Der Rundgang durch die historische Festungsanlage ist ein Erlebnis für sich. Man bewegt sich jedoch nicht in einem Museum, sondern in einer vollständig erhaltenen realen Welt aus der Vergangenheit, man tritt im wahrsten Sinne des Wortes in die Geschichte ein, um diese hier als etwas Konkretes zu erfahren. Diese Zeitreise erlaubt, zu den Wurzeln derjenigen Werte vorzudringen, die bis heute zum Fundament des modernen schweizerischen Selbstverständnisses gehören: Unabhängigkeit, kulturelle Selbständigkeit, Autonomie. Die Konfrontation mit der Geschichte lässt Sie die historische Distanz zu den Antworten von früher erkennen. Dadurch erscheint auf einmal auch die Themenwelt mit ihren gegenwarts- und zukunftsbezogenen Fragestellungen in einem neuen Licht. Die Eröffnung ist für 2012 vorgesehen. Schon heute lässt sich die Faszination der künftigen Nutzung spüren, ein weiteres Highlight, den Gotthardpass nicht nur zu unterfahren, sondern ihn bewusst als Ziel zu wählen.

Im Norden des Alto Ticino im Gebiet der Tre Valli liegen die drei Täler Leventina, Riviera und das Bleniotal mit u.a. dem Lukmanier-Pass, überragt vom Rheinwaldhorn, mit 3402 m der höchste Berg des Alto Ticino. Dort hoch oben auf gut 2000 m im Adula-Gebiet liegt die Greina-Hochebene und die ist bis heute nur zu Fuß erreichbar. Mit fast 6 km Länge und gut 1 km Breite ist diese fast unberührte alpine Tundralandschaft die Kernzone des Parc Adula. Und das ist der Name für das ehrgeizige Projekt des hier mit einer Fläche von über 1000 qkm und einer Kernzone von rund 200 qkm entstehenden größten Nationalparks der Schweiz. Neben seiner großflächigen, intakten Naturlandschaft mit einigen der spektakulärsten und faszinierendsten Tälern und Berggruppen mit imposanten Gletschern des Alpenraums wird in der Umgebungszone die kulturelle Vielfalt der Dörfer, die architektonischen Eigenheiten und der menschlichen Aktivitäten bewahrt, einzigartig in der Schweiz. Man kann die Greina-Hochebene und eben demnächst den Nationalpark Parc Adula, von fünf verschiedenen Ausgangspunkten aus zu Fuß erreichen, vier Berghütten bieten Übernachtungsmöglichkeiten. Wanderziele gibt es reichlich, so die beiden Hauptquellen des Rheins und das Jagdbanngebiet Trescolmen, ein überlebenswichtiges Biotop für Wild und Vögel. Das Projekt Parc Adula soll ein Zukunftsmodell für eine nachhaltige Entwicklung in den Alpenregionen schaffen, ein lebendiger Raum, in dem Menschen im Einklang mit der natürlichen Umgebung leben. Dieses Ziels soll bis 2015 erreicht sein.

Im Leventinatal liegt das sehenswerte Dorf Giornico, eigentlich ist fast das ganze Dorf ein Museum. Es gibt einen Turm, der vor Tausend Jahren gebaut wurde, schöne gewölbte Steinbrücken, beeindruckende Kirchen und historische Gebäude. Eines davon ist dann tatsächlich ein Museum: Museo storico entnografico della Valle di Blenio und das zeigt Kunsthandwerk und Fresken des Tales, Geräte der Land und Forstwirtschaft, Transportfahrzeuge wie Kutschen und Schlitten, Gegenstände aus der bäuerlichen Wirtschaft, dem Handwerk und im ehemaligen Gerichtssaal alte Prozessionsfahnen. Dazu noch Kleidung, Trachten, Textilverarbeitung, Weinbau und Bienenzucht und –wie passend- im ehemaligen Gefängnis die Ausrüstung und Fallen der Wilddiebe. Und wer vom vielen Schauen so richtig Hunger bekommen hat, kann den prächtig in den Grotto genannten Gasthäusern los werden, sehr zu empfehlen an der alten Brücke das Grotto due Ponti.

Was wäre ein Aufenthalt im Alto Ticino, ohne einen Besuch in der Stadt der Burgen und Türme, der Hauptstadt Bellinzona. Die mittelalterliche Bauweise der drei Festungswerke Castelgrande, Castello di Montebello und Castello di Sasso Corbaro, die zum Weltkulturerbe der UNESCO gehören, die schöne Altstadt, die Baudenkmäler und Klöster kontrastieren mit den Bauten großer Architekten, die das Stadtzentrum und die Region prägen. All das aufzuführen, was Bellinzona bietet, würde hier viel zu weit führen, besser schaut man sich das an unter: www.bellinzonaturismo.ch oder www.ticino.ch oder fährt gleich hin und lässt sich überraschen. Am besten sollte man das im Mai tun, da gibt es das Alto Ticino äußerst lecker mit dem „Maggio Gastronomico nelle Tre Valli e Bellinzonese“, ein kulinarisches Festival, bei dem viele verschiedene Restaurants und Hotels mitwirken. Besser kann man das gastronomische Angebot der Region mit seinen wunderbaren regionalen Spezialitäten und saisonalen Zutaten zusammengefasst zu keiner anderen Zeit so konzentriert und in so erlesener Güte erleben. Ein Muss für jeden Liebhaber erlesener Küche und Weine und die Preise spielen auch einigermaßen erträglich mit. Infos unter: www.cittadelgusto.ch . Wer im Herbst in der Gegend ist, kann vieles aus dem Angebot natürlich auch bekommen, oder geht etwas fremd und fährt rüber nach Italien zum nahen Lago Maggiore, da gibt es die „Sentieri del Gusto“ in und um den Nationalpark Val Grande, ein önogastronomisches Festival der traditionsreichen Spezialitäten und guten Weine. Aber vorher sind noch die gastronomischen Höhepunkte des Alto Ticino auszukosten. Ein kleiner Geheimtipp sind die zu besichtigenden Käsereien, wie z.B. die Caseificio del San Gottardo in Airolo, wo man nicht nur gut essen, sondern auch ausgesuchten Käse aus der Region und der ganzen Schweiz kaufen kann. Die Auswahl fällt schwer, den guten Piora-Käse bekommt man allerdings hier auch nicht!
Und wenn es gelänge, all das Schöne, das das Alto Ticino zu bieten hat, unter dem „Programm San Gottardo 2020“ (siehe auch: eturbonews.de vom 10.10.2011) kongenial zu verbinden, dann ist die touristische Vielfalt zum Wohle der Touristen und der Bewohner in guten Händen.