Als die Air France Maschine 447 im Juni 2009 in den Atlantik stürzte, kamen 228 Menschen ums Leben; vermeintlich wegen eines technischen Fehlers. Ursache war jedoch das Wechselspiel zwischen Mensch und Maschine. In einer aktuellen Studie gehen Professor Dr. Gordon Müller-Seitz von der Technischen Universität Kaiserslautern und Dr. Olivier Berthod von der Freien Universität Berlin der Frage nach, wie die komplexe Technik an Bord, die eigentlich die Sicherheit des Fluges gewährleisten soll, dazu führen kann, dass Piloten sich bei einer Fehlermeldung derart unter Stress setzen lassen und falsch handeln. Die Forscher mahnen einen kritischen Umgang mit technischen Systemen an und empfehlen klare Führungsstrukturen im Cockpit. Die Studie ist in der jüngsten Ausgabe der Fachzeitschrift „Journal of Management Inquiry“ erschienen.
Während des Flugs von Brasilien nach Frankreich über dem Atlantik muss es für die Piloten so gewesen sein, als schauten sie auf einen schwarzen Bildschirm. „Es war mitten in der Nacht. Alles um sie herum war dunkel. Sie konnten sich nur auf den Autopiloten und die Bordautomatik verlassen, sodass sie auch nicht sehen konnten, in welcher Lage sich das Flugzeug tatsächlich befand“, sagt Professor Müller-Seitz, der an der Technischen Universität Kaiserslautern zum Fachgebiet Strategie, Innovation und Kooperation forscht.
Als die Messinstrumente plötzlich falsche Daten zur Geschwindigkeit anzeigten, saß der Copilot mit der geringsten Erfahrung am Steuer, neben ihm saß der zweite Copilot, der Kapitän hatte sich zuvor zu einer Pause aus dem Cockpit zurückgezogen. Der Copilot leitete umgehend einen Steigflug ein. Später haben viele diesen Schritt als Panikreaktion eingestuft. Im Untersuchungsbericht waren die Experten sich jedoch nicht sicher, ob der Copilot so gehandelt hat, weil die falschen Werte ihm einen Sinkflug angezeigt haben. „Zur Fehlermeldung ist es gekommen, da die Messsensoren eingefroren waren und falsche Daten geliefert haben“, so der Professor weiter. In der Folge des Steigflugs erreichte das Flugzeug einen derart extremen Winkel, dass es zu einem Strömungsabriss kam. „Mittlerweile waren die Sensoren wieder aufgetaut und haben richtige Angaben geliefert, die die Piloten nicht mehr einordnen konnten. Ziemlich schnell wurde es aber zu spät, gegenzusteuern. Die Maschine prallte kurze Zeit später auf dem Meer auf“, sagt Olivier Berthod, der zur Organisationstheorie an der Freien Universität Berlin forscht.
Die beiden Strategie- und Organisationsforscher beschäftigen sich in ihrer Arbeit mit der sogenannten Soziomaterialität. „Hier geht es um das Zusammenspiel von Mensch und Maschine“, so Müller-Seitz weiter. „Und wie die Handlungen von Maschine und Mensch aufeinander aufbauen und deswegen eskalieren können“, ergänzt Berthod. Für ihre Studie haben sie die Auswertungen des Flugschreibers („Black Box“), die Aufzeichnung der Gespräche im Cockpit und weitere Unterlagen analysiert. „Beispiele wie diese zeigen, welche Folgen es haben kann, wenn der Mensch sich zu sehr auf solche automatisierten Systeme verlässt und ihre Zusammenhänge aus dem Blick verliert“, sagt Berthod.
„Die Copiloten waren mit der Situation überfordert und einer großen emotionalen Belastung ausgesetzt. Ihnen fehlte die notwendige Erfahrung, sie verfielen direkt in Stress und Panik, anstatt Ruhe zu bewahren und als Team nach einer Lösung zu suchen“, fährt Müller-Seitz fort. „Klare Führungsstrukturen und eine geregelte Organisation sind in solchen Situationen daher zwingend erforderlich. Sie beugen einem vorschnellen Handeln und Fehlern vor.“
Wichtig sei es aber auch, sich mit solch komplexer autonomer Technik vertraut zu machen. „Nur so kann man sie verstehen und erkennen, was hinter möglichen Fehlermeldungen steckt und wie der Benutzer diese gegebenenfalls durch sein Handeln eskalieren lassen kann“, sagt Berthod. Vor allem bei Airbus-Maschinen sei die Technik in den verschiedenen Flugzeugtypen immer gleich. Die Cockpits seien derart gestaltet, dass Piloten abgeschottet seien und das Gefühl für die Außenwelt leicht verloren gehe. „Hier sollte unseren Erkenntnissen nach die Technik den Nutzern aber ein Gefühl vermitteln, dass sie mit ihrer Umgebung interagieren. Außerdem sollten die Piloten merken, mit welchen physikalischen Kräften sie es mitunter zu tun haben“, fährt Müller-Seitz fort.
In ihrer Studie mahnen die beiden Wissenschaftler im Umgang mit technischen Systemen zu einer reflektierten Wachsamkeit. Dies trifft aber nicht nur auf Piloten zu, sondern auch auf andere Berufsgruppen, die mit ähnlichen Systemen arbeiten, zum Beispiel auf Börsenmakler, deren Computerprogramme mit Millionen von Börsenwerte zugleich handeln, oder auf Finanzmanager, die für milliardenschweren Investitionen verantwortlich sind.
Die Studie „Making Sense in Pitch Darkness: An Exploration of the Sociomateriality of Sensemaking in Crisis“ wurde in der renommierten Fachzeitschriften Journal of Management Inquiry veröffentlicht.
Quelle: TU Technische Universität Kaiserslautern